Es ist schon eine komische Vorstellung, dass ein Formel 1 Auto nur wenigen Quadratzentimetern Gummi anvertraut wird, die in den Asphalt greifen. Bezogen auf das gesamte Feld von 20 Autos summiert sich das auf ungefähr acht Quadratmeter bzw. 700 Kilogramm fortschrittliche Technologie, die bei den Pirelli Reifen gegen die Gesetze der Physik ankämpfen. Nachfolgend erfahren Sie, wie das in Theorie und Praxis funktioniert. In jeder Kurve versucht die Zentrifugalkraft, die Autos nach außen zu schleudern. Die Reifen hingegen versuchen, das zu verhindern. In der Formel 1 sind diese Reifen vorne 305 Millimeter und hinten 405 Millimeter breit, um so viel Grip wie möglich zu erzeugen. Die Slick-Reifen haben, wie der Name bereits sagt, kein Profilmuster, um einen optimalen Kontakt zwischen Gummi und Straße zu gewährleisten.
DEN MAXIMALEN GRIP ERHALTEN
Auf der Rennstrecke von Mugello, auf der die Formel 1 Mitte Oktober erstmals fuhr, rasen die Autos mit mehr als 270 km/h aus der zweiten Arrabbiata-Kurve. Diese beiden Kurven sowie die unmittelbar davor liegenden Kurven Casanova und Savelli werden mit Vollgas genommen, das heißt mit durchgedrücktem Gaspedal. Dann beginnt der Kampf innerhalb der Physik: Haftung gegen Fliehkraft. Um das Auto auf der Strecke zu halten, bleiben nur die Reifen. Die werden mit steigender Umgebungstemperatur und größer werdender Belastung immer heißer und klebriger. Aber die Reifen behalten während des Kampfes gegen die Fliehraft nicht ihre ursprüngliche Form: Sie verformen sich und werden durch die immensen aerodynamischen Belastungen deformiert, wodurch sie noch fester auf die Strecke gepresst werden.
REGENTANZ
Ein Formel 1 Grand Prix hat eines mit einer alltäglichen Fahrt gemeinsam: Es könnte jeden Moment beginnen zu regnen, was das Leben sofort komplizierter macht. Dann sind Slick-Reifen nicht mehr geeignet. Selbstverständlich können sie das Wasser näher auf die Fahrbahnoberfläche pressen, aber sie können es nicht aus der Aufstandsfläche ableiten. Stattdessen kann der Slick-Reifen zum Wasserski werden - dann beginnt das Aquaplaning. Wenn es also zu regnen beginnt, ist es sinnvoll, entweder auf Intermediates – bei einem feuchten Track- oder auf Regenreifen zu wechseln, wenn das Wasser auf dem Asphalt steht.
In der Formel 1 sind Intermediates eine gute Wahl, wenn die Strecke sich verändert. Wenn es zu regnen beginnt, ist es wichtig, den richtigen Zeitpunkt für den Wechsel von Slicks auf Intermediates zu erkennen. Umgekehrt gilt das Gleiche, sobald die Strecke trocknet. Diese Wechsel werden als crossover points bzw. Übergangspunkte bezeichnet. Intermediates sind weicher und haben Profilblöcke, die weniger widerstandsfähig sind als Slicks, sobald die Fahrbahn trocknet. Daher ist es entscheidend zu wissen, wann man den so wichtigen Wechsel vornehmen muss.
DER RICHTIGE ZEITPUNKT
Die Geschichte des Grand Prix Rennsports ist voller Episoden, in denen Fahrer scheinbar auf dem Wasser gehen oder Wetteränderungen vorhersagen konnten. Das Timing ist sehr wichtig, denn wer eine Runde auf Intermediates absolviert, obwohl er Slicks fahren sollte, kann fünf bis sechs Sekunden verlieren.
Noch mehr Zeit verlieren kann, wer mit Slicks fährt, obwohl Regenreifen erforderlich sind – hinzu kommt die Gefahr, bei Aquaplaning den Grip komplett zu verlieren und einen Unfall zu verursachen. Als allgemeine Regel gilt: Wenn eine normale Rundenzeit auf Slicks als 100 Prozent-Referenzmarke gilt, ist es Zeit, auf Intermediates zu wechseln, sobald die Rundenzeit auf 110 oder 112 Prozent steigt. Ein ähnlicher prozentualer Anstieg im Vergleich zur normalen Rundenzeit mit Intermediates bedeutet dann, auf Regenreifen zu wechseln. Um ein konkretes Beispiel zu geben: Wenn eine normale Rundenzeit auf trockener Strecke 1,30 Minuten beträgt, ist es an der Zeit, über den Einsatz von Intermediates nachzudenken, sobald die Rundenzeit auf etwa 1,40 Minuten steigt. Wenn wir von einer Durchschnittsgeschwindigkeit von etwa 200 km/h für die 1,30 Minuten lange trockene Runde auf Slicks sprechen, dann sinkt die Durchschnittsgeschwindigkeit nur auf etwa 180 km/h, sobald die Intermediates gefahren werden. Das ist eine gewaltige Herausforderung.
WIE INTERMEDIATES UND REGENREIFEN FUNKTIONIEREN
Welche technischen Eigenschaften ermöglichen es einem Intermediate, selbst bei so hohen Durchschnittsgeschwindigkeiten auf nasser Fahrbahn so gut zu arbeiten? Die Wärmekapazität der Mischung ist wichtig: mit anderen Worten, ihre Fähigkeit, auch bei niedrigen Temperaturen Wärme zu erzeugen, was normalerweise bei Regen erforderlich ist. Die andere wichtige Komponente ist das Laufflächenprofil, das aus Blöcken und Kanälen besteht. Die Blöcke müssen den Grip finden und durch ihre Beweglichkeit ein gewisses Maß an Flexibilität bieten. Wenn sie sich nicht ausreichend verformen, ist der Reifen zu hart und erzeugt nicht genügend Wärme. Wenn sie sich hingegen zu stark verformen, kann der Reifen überhitzen. Die Kanäle haben die wichtige Aufgabe, Wasser abzuleiten. Bei 300 km/h kann ein einzelner Intermediate etwa 35 bis 40 Liter Wasser pro Sekunde ableiten. Das bedeutet: Bei voller Geschwindigkeit auf der Geraden verdrängt ein Formel 1 Fahrzeug auf Intermediates etwa 150 Liter Wasser pro Sekunde. Mit Regenreifen kann dieser Wert verdoppelt werden. Eine erstaunliche Menge Wasser.
AUF DEM WASSER GEHEN
Diese speziellen Herausforderungen zu bewältigen ist die Aufgabe des Fahrers. Das Team an der Box kann mithelfen und theoretische Informationen darüber liefern, wie viel Wasser sich in welchen Passagen auf der Strecke befindet. Aber es liegt an den Fahrern zu erkennen, welcher Reifen die beste Wahl ist, um mit den verschiedenen Bedingungen fertig zu werden, auf die er und sein Auto stoßen könnten. Der Große Preis von Deutschland 2019 lieferte ein perfektes Beispiel dafür. Das Rennen wurde sowohl von Regen- als auch von Trockenphasen geprägt. Vielen Fahrern unterliefen Fehler, die Autos drehten sich oder rutschten ins Kiesbett, selbst Topstars wie Lewis Hamilton und Charles Leclerc passierte das. Max Verstappen hingegen war der Mann, der die ideale Balance fand und den vorhandenen Grip der Reifen perfekt spürte. Mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von fast 169 km/h gewann er in seinem Red Bull das Rennen, das eine Stunde und 45 Minuten dauerte. Das lag im hohen Maße an seinen bemerkenswerten Fähigkeiten. Aber auch an den Fähigkeiten der Cinturato Intermediates und Regenreifen. Deren Profildesigns ähneln jenen der Pirelli Serienreifen, die täglich auf der Straße eingesetzt werden.