In der Formel 1 ist Lewis Hamilton der Mann des Jahres. Oder sogar der Mann des Jahrzehnts, denn er gewann sechs der zwölf Titel, die zwischen 2008 und der Saison 2019 zu holen waren. Nun strebt er den rekordverdächtigen siebten Titel an, der ihn zusammen mit Michael Schumacher an die Spitze der Gesamtwertung katapultieren würde. Wird er der '#GOAT' werden, wie er es in den sozialen Medien ausdrückt - der Größte aller Zeiten - oder ist er bereits der Größte?
Dies sind typische Fragen, die in jeder Sportart gestellt werden: gleich, ob man über Pele oder Eddy Merckx, Fangio oder Carl Lewis, Maradona, den verstorbenen großen Kobe Bryant, Tiger Woods, Roger Federer oder ähnlichen Stars spricht. Handelt es sich bei ihnen um große, universelle Champions, die in die Geschichte eingehen werden? Oder sind sie einfach nur die Nummer eins in ihren jeweiligen Disziplinen? Nun steht das Jahr der Wahrheit für Hamilton an, der sich anschickt, in die Geschichte einzugehen. Die folgenden fünf Gründe sprechen dafür, warum er dabei ist, der größte Formel 1 Pilot aller Zeiten zu werden.
ERFOLGE
Lewis hat sechs Weltmeistertitel, den jüngsten errang er 2019. Sein nächster? Wer weiß. Aber es gibt viele Aspekte, die nur eine Schlussfolgerung zulassen: Ein weiterer Titel wird unweigerlich kommen, wahrscheinlich schon sehr bald. Und dann wird Hamilton gemeinsam mit Michael Schumacher an der Spitze der Weltrangliste stehen. Schumacher gelang dies erstmals 2002, als er seinen fünften Weltmeistertitel errang und dadurch mit dem legendären Juan Manuel Fangio gleichzog, dessen Rekord fast ein halbes Jahrhundert lang als unschlagbar galt.
Es gibt nur einen winzigen Wermutstropfen: Sollte Hamilton 2020 seinen siebten Titel holen, wird er dafür nach seinem F1-Debüt im Jahr 2007 insgesamt 14 Saisons gebraucht haben. Schumacher benötigte weniger Zeit: Er gab sein F1-Debüt im August 1991 und holte seinen siebten Titel im August 2004, genau 13 Jahre später. Aber das sind nur Details. Lewis hat bereits die meisten Pole-Positions aller Fahrer auf dem Konto: 88. Die Zahl seiner Rennsiege beläuft sich derzeit auf 84. Schumacher liegt mit 91 Siegen zwar immer noch vor ihm, aber es ist nur schwer vorstellbar, dass die Benchmark des Deutschen noch besonders lange gültig sein wird.
GESCHWINDIGKEIT
Lewis ist mit einer natürlichen Schnelligkeit gesegnet. Das war schon immer sein Markenzeichen: Schon seit dem Kartsport, als er die Aufmerksamkeit von McLarens Ex-Boss Ron Dennis auf sich zog. Im Jahr 1998, Lewis war kaum 13 Jahre alt, holte ihn Dennis in das McLaren-Fahrerentwicklungsprogramm. Dort entwickelte sich die Karriere des Youngsters in der Formel Renault 2.0 und der F3-Euroserie, bevor er Anfang 2007 in die GP2 (heute F2) wechselte, wo er sich auf der Überholspur für sein erstes F1-Rennen Anfang 2007 platzierte. Alles Weitere gehört zur jüngeren F1-Geschichte. Er errang in allen 13 Meisterschaften, die er bisher bestritten hat, mindestens einen Rennsieg und eine Pole-Position - was bislang keinem anderen Fahrer gelungen ist. Und das alles dank seiner faszinierenden Geschwindigkeit: ob im Qualifying, im Rennen, in der Verteidigung oder im Angriff, bei Nässe oder auf trockenem Asphalt, auf Straßenkursen wie in Monaco und Singapur, oder auf schnellen und unnachgiebigen Strecken wie in Silverstone oder Spa-Francorchamps. Er ist überall und jederzeit schnell.
LIEBE ZUM DETAIL
Natürlich gab es einige kleine Fehler - gemacht in der Hitze des Gefechts - die während seiner Karriere gelegentlich zu beobachten waren. Im Jahr seines Formel 1 Debüts 2007 kämpfte er um den Titel, bis es in China, dem vorletzten Rennen der Saison, zu einem erheblichen Aufruhr kam. Hamilton startete von der Pole-Position und führte 24 Runden lang, machte aber einen schwerwiegenden Fehler, als er mit abgenutzten Reifen in die Boxengasse fahren wollte und dabei in Sichtweite seiner Box im Kiesbett landete. Das Ergebnis: Null Punkte. Im folgenden titelentscheidenden Rennen wurde er - auch dank einer kleinen Verwechslung durch McLaren - Siebter, während Ferraris Kimi Räikkönen den Großen Preis von Brasilien gewann und mit nur einem Punkt Vorsprung einen weiteren Weltmeistertitel errang, nachdem er zuvor auch in China gewonnen hatte.
Ein weiteres bemerkenswertes Missgeschick ereignete sich in Spanien im Jahr 2016. Wieder einmal startete Hamilton von der Pole-Position, wurde aber in der ersten Kurve von seinem Teamkollegen Nico Rosberg überholt. Verärgert versuchte er fast sofort zurückzuschlagen, doch vier Kurven später stießen die beiden Mercedes zusammen, und beide schieden auf der Stelle aus. Wenn man jetzt zurückblickt, gibt es keinen Zweifel daran, dass Hamilton in Spanien der schnellere Fahrer war. Er hätte also die Führung eher früher als später wieder übernommen, vielleicht auch mit Hilfe einer bestimmten Strategie. Wäre die Situation ein wenig anders gewesen, hätte er am Ende des Jahres vielleicht nicht noch einen Titel verloren (denn Rosberg gewann die Weltmeisterschaft schließlich mit fünf Punkten Vorsprung). Doch was Lewis in jenem Jahr wahrscheinlich wirklich den Titel kostete: Sein Motor löste sich in Malaysia in Rauch auf (fünf Rennen vor dem Saisonende), nachdem er 33 Runden lang souverän geführt hatte. Was wäre gewesen, wenn...
FÜHRUNGSPERSÖNLICHKEIT
Lewis ist eine natürliche Führungspersönlichkeit. Nicht, weil er der Chef von jemandem sein will, sondern weil er von niemandem Befehle annimmt. Seine instinktive Schnelligkeit und seine Ergebnisse verleihen ihm eine gewisse Unberührbarkeit. Das gilt sowohl für Mercedes als auch für seinen unmittelbaren Teamchef Toto Wolff, ganz zu schweigen von dem schmerzlich vermissten Niki Lauda, der ihn ständig wegen seiner Kleidung, seines Schmucks oder seiner Diamanten-Piercings gehänselt hat. Doch am Ende konnten sie nicht viel Negatives über ihn sagen, denn es gab keinen Teamkollegen, der jemals beständig die Oberhand über Lewis behielt. Es gab ein paar Ausnahmen: Dazu gehört Alonso im Jahr 2007, als Lewis ein Neuling war und der Spanier bereits zwei Weltmeister-Titel besaß. Und natürlich gab es das Finale 2016, bei dem Rosberg letztlich die Nase vorn hatte. Aber das war nach einer intensiven Saison, in der Rosberg alles perfekt zusammengefügt hat. Und das mit einer Taktik und einem Engagement, das an Fanatismus grenzte. Nico hielt eine strenge Diät ein und führte ein mönchähnliches Leben, das sich nur auf ein Ziel konzentrierte, während Lewis auf Partys und bei Modeschauen in der ganzen Welt auftrat. Ende 2016 trat Rosberg in den Ruhestand.
GEISTIGE UND KÖRPERLICHE ENERGIE
Lewis' mentale Energie scheint fast unerschöpflich zu sein. Vor vielen Jahren prägte der legendäre Enzo Ferrari eine Binsenweisheit, die Teil der Motorsport-Folklore geworden ist: Mit jedem Sohn und jeder Tochter verliert man etwa eine Sekunde pro Runde. Auch die Ehe hat oft einen ähnlichen Effekt. Und ein verrücktes, turbulentes Leben kann selbst den talentiertesten Weltmeister aus der Bahn werfen. Aber bei Lewis Hamilton ist das kaum der Fall. Er bricht alle Regeln. Sein Leben gleicht einem hektischen Karussell von Rennen und Nachtflügen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten, bei denen er von einer Jetset-Party zur nächsten fliegt, während er an allen möglichen unwahrscheinlichen Orten weltweit VIP-Auftritte hat.
Am Montag nach seinem Sieg beim Großen Preis von China im April 2019 wurde er auf einer exklusiven Party in Kalifornien entdeckt. Nachdem er den Zeitunterschied von 14 Stunden zwischen China und der Westküste der Vereinigten Staaten genutzt und aufgrund der internationalen Datumsgrenze einen Tag gewonnen hatte, sah er dort frisch wie ein Gänseblümchen aus.
Und genau das ist eine Metapher für seine ganze Karriere. Zeit aus dem Nichts zu holen, das ist seine absolute Spezialität. Auf der Rennstrecke und im Privatleben, aus dem er in den sozialen Kanälen Vieles mitteilt, bleibt er keine Antwort schuldig. Das brachte ihm einen weltweiten Bekanntheitsgrad ein, der sich mit den größten Prominenten der Welt messen kann.
So ist Lewis bisher immer gewesen, und so wird er auch in Zukunft sein - wenn es denn stimmt, dass er derzeit über eine Verlängerung seines Mercedes-Vertrags um fünf Jahre diskutiert. Dabei sollen astronomischen Summen im Spiel sein, die es ihm erlauben würden, auch weiterhin genau das zu tun, was er tun will. Sowohl auf den Rennstrecken der Welt, als auch außerhalb.